Gedanken zum zwischenmenschlichen Umgang

Wir können nicht alles und jeden verstehen

Wir alle sind absolut großartige, einzigartige Lebewesen. Gerade unsere Eigenheiten, unsere Besonderheiten, machen das Leben mit uns lebendig und abwechslungsreich. Gäbe es mich nicht mehr, so gäbe es ein einzigartiges Lebewesen nicht mehr und die Welt wäre ärmer.

Dazu gehört auch, dass es Menschen gibt, mit denen wir nicht können. Aber auch sie sind einzigartige Menschen. Ich muss nicht alles und jeden verstehen – ich kann gar nicht alles und jeden verstehen. Aber ich kann annehmen, dass der/die andere, das gleiche Recht auf Großartigkeit hat, wie ich.

Nehmen wir einmal pubertierende Teenager.

Junge Menschen in der Pubertät sehen sich als erwachsen, dürfen aber nicht mitbestimmen. Sie bekommen immer wieder zu hören, wie schlimm oder nervig sie sind, wie aufgedreht oder zu ruhig, eigentlich können sie es niemandem recht machen. Wir verstehen es hervorragend, junge Menschen zu verunsichern und sie ihre Wertigkeit hinterfragen zu lassen – und lassen sie sogar damit oft allein.

Vielleicht erinnern wir uns selbst einfach zu ungern daran, wie wir damals waren, was wir getan haben, wie wir uns fühlten. Wie war die Kindheit oder Jugend für uns? Was war Schule für uns? Zeigen wir den jungen Menschen, dass wir auch einmal so waren. Dass es ok ist, jung zu sein, Fehler zu machen, über die Stränge zu schlagen, etc. Es gehört nun mal dazu.

Es gehören natürlich auch die Konsequenzen dazu, aber c‘est la vie!

Das hätte ein Küken werden können!

Ich habe ein wunderbares Video gefunden. „Let kids be kids“ heißt es1.

„Lasst Kinder Kinder sein. Sie sind geborene Wissenschaftler.

Sie drehen immer wieder Steine um und pflücken Blütenblätter von Blumen. Sie tun immer Dinge, die im Großen und Ganzen zerstörerisch sind. Das ist das, was Forschung ausmacht. Wenn man Dinge auseinander nimmt, ob man nun weiß, wie man sie wieder zusammenbaut oder nicht. Das ist, was Kinder tun.

Ein erwachsener Wissenschaftler ist ein Kind, das nie erwachsen wurde. […]

Was zu Hause passiert, ist, dass das Kind in den Kühlschrank greift, ein Ei herauszieht und anfängt, es zu schütteln. Was ist das erste, was du als Elternteil tust? “Hör auf, mit dem Ei zu spielen! Es könnte brechen. Leg es zurück!”

Entschuldigung, das ist ein Experiment in der Materialstärke von….

Lasst die Kinder herausfinden, dass es bricht, wenn es fällt! Das ist ein Physikexperiment, das sich schnell in ein Biologieexperiment verwandelt.

Das Eigelb strömt heraus. Du sagst: “Hey! Das wird eines Tages ein Küken, okay?” “Warte. Wie wird aus diesem klebrigen Eigelb ein Küken?” “Nun, das ist Biologie, finde es heraus!”

Und was hat das Ei gekostet? 20 Cent?

Der Präsident von Harvard sagte einmal: “Wenn du denkst, dass Bildung teuer ist, solltest du die Kosten der Unbildung gegenrechnen.” […]

Kinder gehen in die Küche und ziehen alle Töpfe und Pfannen heraus und fangen an, auf sie zu schlagen. Was ist das erste, was du als Elternteil sagst? “Hör auf, so viel Lärm zu machen! Hör auf mit dem Lärm! Du machst die Töpfe und Pfannen schmutzig!”

Du hast gerade ein ganzes Experiment in Akustik zerstört.

Also mache ich mir keine Sorgen um die Kinder.

Die Leute sagen: “Was kann ich tun, damit meine Kinder sich für Naturwissenschaften interessieren?”

Sie sind bereits an der Wissenschaft interessiert. Du bist das Problem.”

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=r6e6ZVzedrY
bei der Übersetzung bin ich nicht ganz am Text geblieben und habe es so übertragen, wir wir es im Deutschen sagen würden.

Wir leben immer mehr in einer Welt der Verbote. Nicht nur Kinder leiden darunter. Wenn wir es nicht wagen können Experimente zu machen, Fehler zu machen, dann können wir es auch nicht wagen wirklich zu leben. Neue Erfahrungen zu machen ist eines der wichtigsten Triebfedern des Lebens, wie auch Neugierde, etwas Neues zu probieren, Dinge hinterfragen usw.

Und natürlich geht dabei manchmal etwas zu Bruch, stört andere oder irritiert. Aber würde es das nicht, wärs ja nichts Besonderes. Wagen wir nichts Neues mehr aus Angst vor Fehlern und den Folgen, dann erzeugen wir Stillstand in der Entwicklung, dann hören wir auf zu leben.

Ob es uns gefällt oder nicht, wir „Erwachsenen“, wir „Autoritätspersonen“ nutzen unsere Autorität viel zu häufig, um Lebendigkeit, Forscherdrang und vieles andere zu zerstören. Wir unterbinden Handlungen und zeigen, dass wir das nicht gut finden.

Doch in vielem, was (junge) Menschen tun, zeigen sie, wer oder was sie sind. Wir sehen sie in ihren Handlungen. Bewerten wir diese Handlungen negativ, bewerten wir die Menschen negativ. Nehmen wir den Handlungen ihren Wert, nehmen wir den Menschen ihren Wert, ihren Selbstwert.

Erklärungen bedeuten Respekt

Ja, manchmal muss man sagen: “Das kannst du nicht tun!”

Wollen wir etwas unterbinden, wollen wir, dass jemand etwas nicht tut, so müssen wir sehr klar zwischen der Handlung an sich und dem Menschen unterscheiden und unsere Reaktion erklären, immer mit dem Ziel, dem Menschen klar zu machen, dass das, was er tut, nicht prinzipiell schlecht ist, nur eben jetzt, in diesem Augenblick, nicht geht.

Leider geschieht dies häufig nicht. „Sei still!“ oder „Hör auf!“ sind meist die kurzen Aussagen, nicht aber: „Sei bitte leiser, weil…. „ oder „Bitte höre damit auf, weil…“ Woher sollen Menschen wissen, dass nicht sie schlecht sind, wenn sie sich äußern, sondern es nur die Aktivität ist, die gerade stört?

Selbst Handlungen, die wir als “schlecht” oder “böse” oder anderweitig negativ interpretieren, sind für den Menschen, der sie tut, positiv. Menschentun meist etwas, weil sie glauben das Richtige zu tun oder nichts Falsches zu tun. Man kann nicht einfach sagen “Lass das!”, denn damit zeigt man nur, das es in Ordnung ist, seine Macht zu missbrauchen. Ich bin stärker, also bestimme ich, im Sinne von “Ich habe das Recht über dich zu bestimmen, du bist mir Untertan!”

Das kommt meist nicht gut und löst auch keine Probleme. Das einzige, was Menschen dadurch lernen: Wenn ich stärker bin als andere, dann kann ich bestimmen, was sie tun!

Wollen wir das?

Wie die meisten Lehrkräfte in der Schule nicht fähig sind, den Sinn ihres Unterrichtens zu erklären, so sind viele Eltern nicht fähig, den Sinn ihrer Handlungen zu erklären. Zu denken: „Das muss ich nicht! Ich habe hier das Sagen!“ ist autoritär und menschenverachtend. Es gibt nicht umsonst den Spruch: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.

Wenn wir Menschen als wertvoll erachten, sollten sie uns auch so viel wert sein, dass mir uns die Mühe machen, unsere Handlungen zu erklären, zu bitten und uns auch evtl. zu entschuldigen, weil wir ihre Handlungen unterbrechen.

Wir sollten alle Menschen immer so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen.

Von der Verantwortung einer Pädagogin

Ich hatte ein interessantes Erlebnis, wofür ich immerhin 52 Jahre alt werden musste. Erfahrungen sind etwas, das man sich nicht aussuchen kann, wann man sie macht, leider.

Wie so oft, gibt es Schülerinnen und Schüler, die häufiger den Unterricht stören. Auch bei mir. Am Ende eines Schuljahres sagte eine Schülerin zu mir: „Sie sind nicht so wie die anderen, sie haben uns verstanden und uns nicht immer gleicht bestraft, wenn wir uns daneben benahmen“.

Viele Menschen sind einfach, wie sie sind. Auch Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht stören, stören ihn häufig nicht, weil sie stören oder jemanden ärgern wollen, sondern weil sie einfach nur sie selbst sind. „Störenfriede“ stören nur unseren Frieden, sie tun das aber nicht unbedingt mit Absicht. Doch unser Handeln, z.B. wenn wir dann Strafen verteilen oder sie demütigen, verurteilen, unterstellt es ihnen, unterstellt ihnen, schlechte Menschen zu sein, einfach, weil sie sind, wie sie sind. Ist das richtig?

Gerade sie sind doch diejenigen, für die wir gelernt haben. Sie sind doch diejenigen, weshalb ich Pädagogin bin. Wer immer nur pflegeleichte Menschen möchte, die still und brav sind, sollte auf dem Friedhof arbeiten.

Wenn ich okay bin, ändere ich mich

Der Selbstwert hängt eng zusammen mit dem Selbstbild. Es heißt Selbst-Bild, weil es das Bild ist, das wir von uns sehen. Dies sehen wir in den anderen, sie reflektieren uns, wie ein Spiegel, zurück, wer oder was wir sind. Deshalb haben wir alle auch immer eine Verantwortung für unsere Mitmenschen. Unsere Handlungen bestimmen sie, bestimmen ihre Handlungen, aber auch ihr Bild, das sie von sich selbst bekommen.

Spiegeln wir zurück, dass sie Störenfriede sind uns nerven, denken sie auch das von sich. Und Störenfriede sind ja nur dann Störenfriede, wenn sie stören. Oder anders gesagt: Wir machen die Störenfriede, weil wir sie dazu benennen. Ich erzeuge die Handlungen anderer ja mit.

Gleichzeitig lernen sie, dass sie immer bestraft werden und die ewigen Außenseiter sind, weil ihr Sein nicht gewünscht ist, sie sind so, wie sie sind, nicht gewünscht. Daraus entwickelt sich ein Außeneiterbewusstsein. Kritik prallt ab, weil sie ja eh immer kritisiert werden, eh abgestempelt werden. Veränderungen sind kaum mehr möglich.

Erfahren Menschen jedoch, dass sie so, wie sie sind, ok sind, können sie sich ändern. Sie müssen sich nicht abschotten oder eine Kritikabwehr aufbauen. Es gibt nichts, wogegen man sich wehren muss, wenn man akzeptiert wird. Gleichzeitig bin ich ein Vorbild und ein Spiegel. Was ich tue, machen evtl. andere nach. Wenn ich akzeptiere, lernen sie akzeptieren, wenn sie sehen, dass sie ok sind, können sie vielleicht auch sehen, dass auch andere ok sind. Wer kein Feind ist, könnte ein Freund sein, oder?

Dazu passend

Quellenangabe

1Aldemar Gamba, Let kids be kids. Subtítulos en español latinoamericano. Neil deGrasse Tyson., 2018, https://www.youtube.com/watch?v=Hchv7dOPauk.

Bilder: Pixabay, überarbeitet: Christina Schieferdecker

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