Die Systemtheorie nach Humberto Maturana

Systeme

“Systeme sind von der Umwelt abgrenzbare, strukturierte Ganzheiten, deren Elemente in Wechselwirkungen miteinander stehen.” (Lieb 2014)

“Systemtheorien untersuchen den Aufbau von Systemen, ihre Dynamik und ihr Verhalten im Zeitablauf, wobei zunehmend dem Konzept der Selbstorganisation eine zentrale Rolle zukommt.
Es werden verschiedene Systemebenen unterschieden, die ihrerseits in Wechselwirkung miteinander stehen (z.B. Zellsystem, psychisches System, Familiensystem, Rechtssystem). […] In der Psychologie spielt systemisches Denken vor allem auf den Gebieten der Familienpsychologie und -therapie (Familie, Psychotherapie, Systemische Therapie), der Arbeits- und Organisationspsychologie und der Ökologischen Psychologie (Umweltpsychologie) eine wichtige Rolle.
Auf gesellschaftlicher Ebene ist insbesondere die Systemtheorie von Niklas Luhmann von Bedeutung. Verwandte Denkrichtungen sind der Radikale Konstruktivismus, die Kybernetik und die Chaostheorie.” (Lieb 2014)

Kognitive Systeme

Nach Humberto Maturana1 sind kognitive Systeme (z.B. das menschliche Gehirn) energetisch offen, aber semantisch/informell geschlossen. D.h.: Sie nehmen keine Informationen aus der Umwelt/dem Milieu auf, oder können willentlich bestimmte (determinierbare) Informationen an das Milieu abgeben. Das Milieu wirkt lediglich durch Perturbationen (Störungen) auf das kognitive System ein, aus welchen sich dieses eine viable (lebbare) Umwelt errechnet2. Gleichfalls kann auch das kognitive System seine Umwelt lediglich „stören“, jedoch nicht absichtsvoll auf eine bestimmte Art und Weise beeinflussen.

Hierzu Gerhard Roth:

„Dabei ist es für das kognitive System nicht immer möglich, zwischen internen und externen Perturbationen/Erregungen des Nervensystems zu unterscheiden.
Das Gehirn ist […] ein […] selbstreferentielles System. Seine neuralen Zustände sind zirkulär angeordnet, sie interagieren in unendlich rekursiver Weise miteinander. Es kann über die Sinnesorgane von Ereignissen der Umwelt beeinflusst werden, aber die Art und Weise dieser Beeinflussung wird von ihm selbst (durch seine funktionale Organisation) festgelegt. Zugleich ist das Gehirn ein semantisch selbstreferentielles oder ein selbstexplikatives System: Es weist seinen eigenen Zuständen Bedeutung zu, die nur aus ihm selbst genommen sind. So kann es nur nach inneren Kriterien entscheiden, ob die Erregungszustände, die es in sich erfährt, Ereignisse der äußeren Welt, des Körpers oder des psychischen-geistigen Bereichs sind und welche speziellen Bedeutungen diese Ereignisse haben.“ (Roth)3

Die bloße Annahme der Existenz einer Außenwelt/eines Milieus, ist eine Konstruktion unseres Gehirns (siehe: Konstruktivismus). Dieses erhält lediglich durch die Vermittlung der Sinne Signale aus der Umwelt, kann jedoch diese Signale nicht von internen Signalen unterscheiden, da es ja nur intern Signale „empfangen“ kann (da es selbst ja keine direkte Verbindung mit der Außenwelt hat).

Hierzu noch einmal Gerhard Roth:

„Befremdlich muss die Aussage klingen, dass das Gehirn … keinen direkten Kontakt mit der Welt hat; … Ebenso schwierig ist es zu verstehen oder auch emotional zu verstehen, dass alles, was wir wahrnehmen und was wir sind, ein Konstrukt unseres Gehirns ist und dass es keinerlei gesicherte Beziehung zwischen diesen Konstrukten und den Dingen und Ereignissen der bewusstseinsunabhängigen Welt gibt.“ (Roth)4

Struktur und Organisation

Um den Begriff der strukturellen Koppelung zu verstehen, ist es wichtig die Bedeutung der Begriffe „Struktur“ und „Organisation“ zu kennen. Sie werden von Maturana/Varela folgendermaßen definiert:

Struktur:

Unter der Struktur von etwas werden die Bestandteile und die Relationen verstanden, die in konkreter Weise eine bestimmte Einheit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen.“ (Maturana/Varela)5

Organisation:

Unter Organisation sind die Relationen zu verstehen, die zwischen den Bestandteilen von etwas gegeben sein müssen, damit es als Mitglied einer bestimmten Klasse erkannt wird.“ (Maturana/Varela)6

Um die Begriffe Struktur und Organisation näher zu verdeutlichen, hier nun ein Text aus dem “Dao de jing”:

dreißig speichen umringen die nabe
wo nichts ist
liegt der nutzen des rades“
(LaoZi)7

Mantel, Felge, Speichen und Nabe, sowie die Materialien, aus welchen sie jeweils hergestellt sind, bilden die Struktur des Rades. Erst ihre Organisation (Anordnung, Verhältnis und Beziehung der einzelnen Teile zueinander) “macht” aus ihnen ein Rad. Dabei gehört zur Organisation auch, dass an bestimmten Stellen nichts ist. Auch “Nicht-Seiendes” ist Teil einer Organisation.

“Strukturveränderung” ohne Änderung der Organisation würde im Beispiel bedeuten, z.B. die Speichen aus Aluminium herzustellen, oder aus den dreißig einzelnen Speichen zusammen mit der Felge – wie es heutzutage bei fast allen Autorädern der Fall ist – eine einzige große Felge zu machen. Die Struktur des Rades hätte sich dann verändert, nicht jedoch die Organisation, welche das Rad zum Rad macht8.

(Es ist natürlich möglich, zwischen der Organisation z.B. eines Fahrradrades und der Organisation eines Autorades zu unterscheiden.)

Rekursivität:

Als Rekursion (lateinisch recurrere ‚zurücklaufen‘) bezeichnet man den abstrakten Vorgang, dass Regeln auf ein Produkt, das sie hervorgebracht haben, von neuem angewandt werden. Hierdurch entstehen potenziell unendliche Schleifen. Regeln bzw. Regelsysteme heißen rekursiv, wenn sie die Eigenschaft haben, Rekursion im Prinzip zuzulassen.“ (Wikipedia)9

Autopoietische Gebilde erhalten sich durch ständige Herstellung ihrer Komponenten durch sich selbst.

Autopoiese

Autopoiese:

griech.: autos = selbst; poiein = machen.“ (Maturana/Varela)10

Die Autopoiese ist der Mechanismus, der Lebewesen zu autonomen Systemen macht. Sie kennzeichnet Lebewesen als autonom.“ (Maturana/Varela)11

Autopoiese ist die Organisation, welche ein Lebewesen als Lebewesen definiert.“ (Maturana)12

Ein autopoietisches System (z.B. der Mensch) ist ein sich selbstständig hervorbringendes und erzeugendes System, d.h. es erzeugt

durch sein Operieren fortwährend seine eigene Organisation … , und zwar als ein System der Produktion seiner eigenen Bestandteile … .”(Maturana)13

Dabei zeigt sich der Einfluss der Umwelt als auf das autopoietische System einwirkende Perturbationen (Störungen), welche das autopoietische System verändern, jedoch können diese Veränderungen vom Handelnden nicht determiniert (bestimmt) werden, auf Grund der Strukturdeterminiertheit des perturbierten Systems.

Die Autopoiese ist die Organisationsform der Lebewesen, oder anders gesagt: jedes Lebewesen ist ein autopoietisches System.

Autopoiese und operationale Geschlossenheit

Systeme „machen sich selbst” (griechisch: auto = selbst; poiein = erzeugen, erschaffen) und sie reagieren auch nur auf sich selbst. Systeme können auch nicht aufhören, sich zu erschaffen und auf sich selbst zu reagieren, solange sie leben. Für sie gibt es nur Weiterleben oder Sterben. Solange sie leben, reproduzieren sie sich nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten.

Eine Ableitung daraus auf dem Gebiet der psychischen Störungen: Wenn eine Person sich selbst als depressiv beschreibt, folgt aus dieser Theorie, dass „die Depression” von der Psyche dieser Person selbst erzeugt wird und nicht von außen in sie hineingetragen werden kann. Die Frage ist dann, wie und mit welchen Operationen die Psyche das in Interaktion mit ihrer Umwelt tut. Diese Operationen sind dann qualitativ von gleicher Art wie die Operationen der Psyche aller anderen Menschen.

Die Operationen eines Systems schließen immer nur an eigene Operationen und nicht an die anderer Systeme an. Die Umwelt ist das, was sich das System als Umwelt konstruiert. Insofern reagiert ein System nicht auf die Umwelt, sondern darauf, wie es sich diese Umwelt erzeugt. Welche Ereignisse oder welche „Botschaften” von außen (z. B. von einer anderen Person) für ein System relevant sind, bestimmt es selbst dadurch, ob und wie es auf diese Umwelt reagiert.” (Lieb 2014)

Dynamisches Gleichgewicht von Systemen

Betrachten wir das zeitliche Verhalten von Systemen. Wenn sich im Laufe der Zeit nichts ändert, so spricht man von einem statischen bzw. stabilen System. Das Gegenteil ist eine ständige Veränderung im Laufe der Zeit. Dann spricht man von Dynamik bzw. vom dynamischen System. Wichtig ist dabei, dass beides (Stabilität/Dynamik) notwendige Gegenpole in funktionierenden Systemen sind. Nur das eine oder das andere ist das Ende jeden Systems. In der Mischung von beidem kann sich erst ein System entwickeln. Ohne Stabilität hat ein System schließlich keinen Bestand. Aber eben auch der Wandel ist ein notwendiges Merkmal aller Systeme, denn dazu führen nämlich die Beziehungen untereinander. In den Griff bekommt man diesen Wandel z. B. durch Steuer- und Regelmechanismen.

Da ein selbstorganisierendes, operational geschlossenes System sich ständig selbst erzeugen und wieder ins Gleichgewicht bringen muss, spricht man von einem dynamischen, also sich ständig veränderndem, aber dennoch im Gleichgewicht seienden System.

Ein solches System befindet sich dann im dynamischen Gleichgewicht, wenn die Häufigkeit der Reaktionen in beiden Richtungen gleich groß ist. Hin- und Rückreaktion heben sich in ihrer Auswirkung gegenseitig auf, da die Prozesse rekursiv und zirkulär sind. Das System ist dynamisch, da die Hinreaktion und die Rückreaktion ständig ablaufen.

Operationale Geschlossenheit

Die “operationale Geschlossenheit” besagt nicht, dass die Systeme in Isolation voneinander existieren. Im Gegenteil: Sie benötigen ihre Umwelt “wie der Fisch das Wasser” benötigt, wie die Kognition (Bewusstsein oder Psyche) die soziale Kommunikation benötigt, wie die Kommunikation auf die Psyche bzw. das kognitive System angewiesen ist. Die operationale Geschlossenheit lässt informationelle Störungen (Perturbationen) oder “strukturelle Kopplungen” zu. Das meint, dass es in der aufeinander bezogenen Interaktion autonomer Systeme zu Mustern der Interaktion kommen kann. Man kennt sich, weiß, wie man miteinander umzugehen hat, verwendet bestimmte Unterscheidungen, gefällt sich in Ritualen. “Strukturell” bedeutet, dass die jeweils eigenen “Betriebssysteme” Formen entwickeln, die den Kontakt mit anderen Betriebssystemen erwartbar werden lassen.

“Beschreibt man die Gesellschaft als System, so folgt aus der allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme, dass es sich um ein operativ geschlossenes System handeln muss. Auf der Ebene der eigenen Operationen gibt es keinen Durchgriff in die Umwelt, und ebenso wenig können Umweltsysteme an den autopoietischen Prozessen eines operativ geschlossenen Systems mitwirken. […] Operative Geschlossenheit hat zur Konsequenz, dass das System auf Selbstorganisation angewiesen ist. […] Die eigenen Strukturen können nur durch eigene Operationen aufgebaut und geändert werden – also zum Beispiel Sprache nur durch Kommunikation und nicht unmittelbar durch Feuer, Erdbeben, Weltraumstrahlungen oder Wahrnehmungsleistungen des Einzelbewusstseins.”14 (Luhmann)

Operative Schließung ist gleichbedeutend mit autopoietischer Reproduktion, Systeme, die sich auf diesem Evolutionsniveau etablieren, können sich nur aus eigenen Produkten reproduzieren. Sie können keine Elemente, keine unverarbeiteten Partikel aus der Umwelt importieren.“ (Luhmann)15

Die eigenen Strukturen können nur durch eigene Operationen aufgebaut und geändert werden: Z.B. Sprache nur durch Kommunikation (Sprache).

Strukturdeterminiertheit

HumbertoMaturana:

Wäre der von einem System aufgrund einer Interaktion eingenommene Zustand durch die Eigenschaften der Entität bedingt, mit der das System interagiert, dann wäre die Interaktion eine „instruktive“ Interaktion. … Alle instruierbaren Systeme würden … aufgrund gleicher Einwirkung denselben Zustand einnehmen und notwendigerweise für den Standardbeobachter ununterscheidbar sein.
Zwei Systeme können vom Standardbeobachter nämlich deshalb unterschieden werden, weil sie aufgrund von als identisch aufgefassten Einwirkungen unterschiedliche Zustände einnehmen und daher nicht-instruierbare Systeme sind.“ (Maturana)16

Nach Humberto Maturana sind Menschen (autopoietische Systeme) strukturdeterminiert, nicht umweltdeterminiert. In der strukturellen Koppelung/Interation mit der Umwelt wird ein autopoietisches System lediglich perturbiert und „verarbeitet“ diese Perturbation auf Grund und nach Art und Weise seiner eigenen Struktur. Deshalb konstruiert jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit.

Strukturdeterminiertheit bedeutet nichts weiter, als dass etwas nicht einfach durch etwas anderes verändert werden kann, denn sonst existiert es nicht mehr. Nehmen wir einmal an, wir würden uns ständig verändern, je nachdem, was uns gerade beeinflusst, wären wir ein Spielball unserer Umwelt. Um wir selbst sein zu können, müssen wir uns gegen verschiedene Umwelteinflüsse behaupten und wir selbst bleiben.

Soziale Systeme

Strukturelle Koppelung

Der Begriff der strukturellen Koppelung wird von Humberto Maturana und Francisco Varela17 folgendermaßen definiert:

Strukturelle Koppelung :

„Da wir die autopoietische Einheit als mit einer besonderen Struktur ausgestattet beschreiben, erscheint es uns offenkundig, dass die Interaktionen zwischen Einheit und Milieu, solange sie rekursiv sind, für einander reziproke Perturbationen bilden. Bei diesen Interaktionen ist es so, dass die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt), was auch umgekehrt für das Milieu gilt. Das Ergebnis wird – solange sich Einheit und Milieu nicht aufgelöst haben – eine Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen sein, also das, was wir strukturelle Koppelung nennen.“ (Maturana/Varela) 18

Strukturelle Koppelung findet also immer statt, wenn z.B Mensch und Umwelt, oder zwei Menschen lange genug miteinander interagieren, um von einer „Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen“ sprechen zu können. Hierbei beeinflussen sie sich gegenseitig derart, dass sie gegenseitig Strukturveränderungen (durch Perturbationen) auslösen. Dabei können diese Strukturveränderungen weder vom beeinflussenden, noch vom beeinflussten System (Mensch, Umwelt) determiniert (bestimmt) werden19.

Bei diesem Theoriebaustein geht es um die Beschreibung von Interaktionen zwischen einem System und seiner Umwelt bzw. zwischen einem System und einem anderen: Z. B. zwischen Körper und Psyche, zwischen einer Einzelperson (Psyche + Körper) mit einem sozialen System oder auch zwischen einer Organisation und seiner Umwelt (z. B. Kunden).
Mit diesem Konzept wird theoretisch kombiniert, dass ein System gleichzeitig autonom und von seiner Umwelt/von anderen Systemen abhängig ist.
Was das einzelne System betrifft, gilt das Prinzip der ‘operationalen Geschlossenheit’. Diese besagt, dass jedes System aufgrund seiner Eigenstruktur selbst bestimmt, was es aus der Umwelt aufnimmt und wie es darauf reagiert. Auf dem Gebiet der Kommunikation: ‘Der Empfänger bestimmt die Botschaft.'” Strukturelle Koppelung bedeutet auch, “dass sich das … System auf Dauer auf… Ereignisse in seiner Umwelt… einstellt und seine eigene Struktur daran ausrichtet” (Hoegl 2012, S. 223).

Struktur und Organisation der Gruppe

Die Organisation der Gruppe ist das, was eine Gruppe zu einer Gruppe, zu einer Einheit und einem System 3. Ordnung macht. Die Organisation der Gruppe, das sind die “Relationen”, die zwischen den Gruppenmitgliedern gegeben sein müssen, um die Organisation “Gruppe” zu erzeugen. Diese “Relationen” werden durch rekursive Interaktionen gebildet und existieren innerhalb des sprachlichen Bereichs/der Sprache der Gruppe, also in den, bzw. durch die FInteraktionen20 zwischen den Mitgliedern der Gruppe.21

Stabile, andauernde Interaktionen werden auch „Strukturelle Koppelungen“ genannt.

“Strukturveränderung” der Gruppe bedeutet demnach z.B.:

Eintritt neuer oder Austritt alter Gruppenmitglieder, Änderungen in den Interaktionen zwischen den Mitgliedern (z.B. Änderungen der Sprache, Regeln oder der Häufigkeit der Interaktionen.). Aber auch Strukturänderungen der einzelnen Mitglieder (Menschen) bedeuten Strukturänderungen der Gruppe.

Soziale Systeme und Phänomene

… werden von Maturana/Varela folgendermaßen definiert:

Soziale Phänomene :

„Unter sozialen Phänomenen verstehen wir Phänomene, die mit dem Zustandekommen von Koppelungen dritter Ordnung einhergehen, und unter sozialen Systemen die Einheiten dritter Ordnung, die so entstehen. … (Die) soziale Phänomenologie beruht darauf, dass die beteiligten Organismen im wesentlichen ihre individuelle Ontogenesen als Teil eines Netzwerkes von Ko-Ontogenesen verwirklichen, das sie bei der Bildung von Einheiten dritter Ordnung hervorbringen.“ (Maturana/Varela)22

Da Soziale Systeme als Einheiten (Systeme) dritter Ordnung definiert sind, welche sich durch strukturelle Koppellungen dritter Ordnung bilden23, können wir bereits bei nur zwei beteiligten Menschen (Systemen) von einem Sozialen System sprechen.

Soziales System:

Ein Soziales System sind mindestens zwei Menschen mit einer dauerhaften strukturellen Koppelung, also mit einer Ko-Ontogenese.

Bereits zwei strukturell gekoppelte Menschen bilden ein soziales System
Abbildung 1: Bereits zwei strukturell gekoppelte Menschen bilden ein soziales System. (gezeichnet nach: Maturana/Varela)

Ein Soziales System lässt sich also bereits folgendermaßen, als strukturelle Koppellung von mindestens zwei autopoietischen Systemen/Menschen darstellen (wobei die Anzahl der beteiligten Systeme/Menschen soweit erweiterbar ist, wie es die oberen Definitionen zulassen.):

Die Gruppe – Begriffsbestimmung

Von Peter R. Hofstätter stammt folgende Definition:

Wo sich die Lebens- und Erlebens-Linien mehrerer Wesen miteinander mehr oder minder fest und dauerhaft verknoten, haben wir eine Gruppe vor uns.“ (Hofstätter)24

Versteht man unter „Lebens- und Erlebenslinien miteinander verknoten“ eine andere Beschreibung der strukturellen Koppelung, so erhält man eine systemische Definition für „Gruppe“:

Gruppe:

Die Gruppe ist ein soziales System. Wo sich mehrere Menschen (mindestens drei). mehr oder weniger stark und dauerhaft strukturell koppeln, haben wir eine Gruppe vor uns.

Drei miteinander strukturell gekoppelte Menschen bilden bereits eine Gruppe
Abbildung 2: Drei miteinander strukturell gekoppelte Menschen bilden bereits eine Gruppe. (gezeichnet und entworfen von mir, unter Zuhilfenahme von Symbolen von Maturana/Varela)

Als Schaubild lässt sich die Gruppe folgendermaßen (siehe Abbildung 2) darstellen, wobei die Anzahl der beteiligten Systeme/Menschen soweit erweiterbar ist, wie es die o.g. Definitionen zulässt:

Strukturelle Koppelung der Gruppenmitglieder bezieht sich in den oben genannten Definitionen jedoch nicht nur auf Lebens- und Erlebens-Linien, sondern auf den ganzen Menschen, mit all seinem Handeln, Denken, Fühlen, etc., sowie auf den „Körper“ des Menschen selbst. Der ganze Mensch ist Teil der Struktur der Gruppe. (Die Theorie der strukturellen Koppelung und die dieser zugrundeliegenden Systemtheorie sind also holistische/ganzheitliche Theorien.)

Die Gruppe als Einheit

Eine Gruppe muss, um als solche gelten zu können, auch als solche erkannt, d.h. von einer Nicht-Gruppe unterschieden werden können (Gruppenmitglieder und Nicht-Gruppen-Mitglieder müssen von einander unterschieden werden können). Die Gruppe muss also als Einheit erkannt werden können. Diese wird von Maturana/Varela folgendermaßen definiert:

Einheit:

„Eine Einheit (Entität, Wesen, Objekt) ist durch einen Akt der Unterscheidung definiert. Anders herum: immer dann, wenn wir in unseren Beschreibungen auf eine Einheit Bezug nehmen, implizieren wir eine Operation der Unterscheidung, die die Einheit definiert und möglich macht.“ (Maturana/Varela)25

Eine Gruppe (ein soziales System) ist als Einheit v.a. durch folgende Punkte erkennbar:

  • Emotionale Bindung an und emotionale Abhängigkeit von der Gruppe. Die Gruppe wird zu einer (weiteren) „Familie“, deren man sich zugehörig fühlt. Zusammenhalt, Freundschaft, Kameradschaftlichkeit gehören hierzu.
  • Gemeinsame Interessen.
  • Gemeinsames Ziel, gemeinsames zielgerichtetes Handeln.
  • Gemeinsame Sprache, d.h. die Gruppe lebt in der Gruppensprache26, welche so gestaltet sein muss, dass eine Verständigung möglich ist und neue Wörter und Begriffe sofort jedem bekannt werden (soweit sie für die Gruppe wichtig sind).
  • Gruppenspezifische Handlungsabläufe und Zeitstrukturierung, z.B.:
  • „Ritual“ des Zusammentreffens (Begrüßens) und des Auseinandergehens (Verabschiedung) strukturiert z.B. bestimmte Handlungen, Sätze (Sprache), Zeiteinteilung, usw..
  • „Ablaufsrituale“ (Strukturierung des Beisammenseins in der Zeit und im Tun)
  • Benimmregeln (z.B. mitmenschlicher Umgang, TZI-Regeln, etc.)
  • Autoritäteneinteilung (Wer ist für was zuständig? Wer kennt sich wo aus?)
  • Selbstverständnis als Gruppe (“Wir sind eine Gruppe, weil ….”, “Wir gehören zusammen, weil ….”).

Schwellensituationen in Systemen / Systemübergänge

Mit der Metapher der Schwelle werden im sozialen Leben Systemübergänge bezeichnet. Der bisherige „Way of live” kann nicht in alter Form fortgesetzt werden. Man kann das auch als Krisenzeit ansehen, die ein System zu Veränderungen herausfordert.(Lieb 2014)

Es gibt typische Varianten von systeminternen Schwellensituationen:
Bei einem Paar die Ankunft des ersten Kindes, bei Familien der Austritt des erwachsenen Kindes aus dem familiären Zusammenleben oder ein Mitglied hat sich verändert und steigt aus einer alten Rolle aus (z. B. aus der Krankenrolle oder aus der, bei Konflikten immer nachzugeben). In Organisationen wären Beispiele von Schwellensituationen die Fusion zweier Abteilungen, die Veränderung der Produktpalette, die Veränderung der Rechtsform eines Unternehmens oder das Ausscheiden tragender Figuren.

Varianten externer Veränderungen, auf die ein System reagieren muss, sind entweder erwartete („Normalkrisen”) oder unerwartete („Traumakrisen”). Schwellensituationen oder Phasenübergänge erfordern auf vielen Ebenen Anpassungsprozesse – im Denken, in Interaktionen, auf der Ebene der sozialen Regeln und oft auf der strukturellen Ebene.” (Lieb 2014)

Fußnoten

1 vgl. Maturana/Varela 1987, S. 133 – 151, sowie Maturana 1985, S. 32- 80 und S. 297 – 318. darauf aufbauend vgl. auch v.a. Roth 1987b, sowie Roth 1992

2 vgl. Foerster 1985

3 Roth 1987b, S. 241. Hervorhebungen im Original.

4 Roth 1992, S. 319

5 Maturana/Varela 1987, S. 54

6 Maturana/Varela 1987, S. 54

7 Laudse (Lao Zi) 1978, Kapitel 11

8 Ein weiteres, sehr anschauliches Beispiel über die Struktur und Organisation eines Spülkastens findet sich bei Maturana/Varela 1987, S. 54 und auf S. 49 über Struktur und Organisation eines Stuhles.

9 „Rekursion“ 2019

10 Maturana/Varela 1987, S. 51

11 Maturana/Varela 1987, S. 51

12 Maturana 1987a, S. 290

13 Maturana 1985, S. 185

14 Luhmann, Niklas (1997), S.92

15 Luhmann, Niklas (2002), S.22f

16 Maturana 1985, S. 243, vgl. auch hierzu: Maturana/Varela 1987, S. 105 – 110.

17 Maturana/Varela 1987

18 Maturana/Varela 1987, S. 85

19 vgl. Kapitel „Strukturdeterminiertheit “, Seite 29

20 vgl. hierzu die Definition der Strukturellen Koppelung.

21 vgl. dazu auch: Böse/Schiepek 1989, S. 176

22 Maturana/Varela 1987, S. 209, Hervorhebungen von mir, M. S..

23 so bei Maturana/Varela 1987, S. 196ff

24 Hofstätter 1972, S. 192

25 Maturana/Varela 1987, S. 46

Literaturangaben

Altenthan, Sophia, Sylvia Betscher-Ott, Wilfried Gotthardt, Hermann Hobmair, Reiner Höhlein, Wilhelm Ott, und Rosmaria Pöll. Pädagogik, Psychologie für das berufliche Gymnasium in Baden-Württemberg. 1. Aufl. Köln: Bildungsverl. EINS.

Böse, Reimund/Schiepek, Günter (1989): Systemische Theorie und Therapie. Heidelberg (Asanger)

Foerster, Heinz von (1992): Entdecken oder Erfinden. In: Gumin, Heinz/Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. München, Zürich (Piper), S. 41 – 88.

Foerster, Heinz von (1985): Das Konstruieren einer Wirklichkeit. in: Watzlawick, Paul (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. München (Piper), S. 294 – 319

Glasersfeld, Ernst von (1987): Siegener Gespräche über Radikalen Konstruktivismus. in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 401 – 440.

Glasersfeld, Ernst von (1992): Aspekte des Konstruktivismus: Vico. Berkeley, Piaget. in: Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung. (DELFIN 1992) Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 20 – 33.

Glasersfeld, Ernst von (1992b): Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Gumin, Heinz/Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. München, Zürich (Piper), S. 9 – 40.

Hofstätter, P. R. (1972): Gruppendynamik. Kritik der Massenpsychologie. Hamburg (Rowolt)

Krohn, Wolfgang/Küppers, Günther/Paslack, Rainer (1987): Selbstorganisation – Zur Genese und Entwicklung einer wissenschaftlichen Revolution. in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1987, S. 441 – 465.

Laudse (Lao Zi) (1978): Daudedsching (Dao de jing). Leipzig (dtv)

Lieb, Hans. 2014. Störungsspezifische Systemtherapie: Konzepte und Behandlung. 1. Aufl. Störungen systemisch behandeln. Heidelberg: Auer.

Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 1.Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1997, ISBN 3-518-58240-2

Luhmann, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. 1.Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002, ISBN 3-518-29193-9

Maturana, Humberto (1985): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, Wiesbaden (Vieweg), 2. durchges. Aufl.

Maturana, Humberto (1987a): Biologie der Sozialität. in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 287 – 302.

Maturana, Humberto (1987b): Kognition. in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 89 – 118.

Maturana, Humberto (1994): Was ist erkennen? München (Piper)

Maturana, Humberto/Varela, Francisco (1987): Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern, München (Goldmann)

„Rekursion“. 2019. In Wikipedia. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Rekursion&oldid=184511491

Riegas, Volker/Vetter, Christian (1990): Gespräch mit Humberto R. Maturana. in: dies. (Hg.): Zur Biologie der Kognition: ein Gespräch mit Humberto R. Maturana und Beiträge zur Diskussion seines Werkes. Frankfurt/Main (Suhrkamp), S. 11 – 90

Roth, Gerhard (1987): Autopoiese und Kognition. Die Theorie H. R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung. in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 256 – 286.

Roth, Gerhard (1987b): Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit. in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 229 – 255

Roth, Gerhard (1992): Das konstruktive Gehirn.: Neurobiologische Grundlagen von Wahrnehmung und Erkenntnis. in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 277 – 336.

Schmidt, Siegfried J. (1987): Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs. in: ders. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. (Suhrkamp), S. 11 – 88.

Noch mehr Begriffe und Erklärungen zur Systemtheorie:

Share: